Reiner Beßling: "Maikäferflugbenzin"

Kerstin Vornmoors Bilder vermitteln im ersten Zugang und aus der Entfernung den Eindruck monochromer Flächigkeit und nahezu greifbarer Präsenz. Ein farblicher Grundklang wie in einer Bildtafel der konkreten Malerei bestimmt die Wahrnehmung. Eine solche Komposition aus Farbstofflichkeit wirkt in den Raum hinein, verstrickt den Betrachter in einen Dialog, der weniger inhaltlich motivisch geprägt ist, als atmosphärisch bestimmt. Nicht Lektüre oder Entschlüsselung eines Bildinhalts lenken und prägen den Blick, sondern Versenkung und innere Versammlung.

Erst der nähere Blick lässt ein bewegtes grafisches Innenleben im Farbklang und Bildklima erkennen. Diese Binnenzeichnung genau zu erschließen, fällt schwer. Vieles ist überlagert, entweder von der Farbhaut oder von anderen Lineaturen. Bisweilen ist Körperhaftes zu identifizieren, doch Figurenteile sind von anderen grafischen Fragmenten überlagert. Gegenständliches und Zeichenhaftes treffen und vermengen sich. Die zugleich eingeschleust und eingeschlossen anmutenden Figuren und Figurenensembles schimmern neben Tierdarstellungen, Ikonen und Ornamenten vom Grund des Bildes. Die Zeichnungen stellen Verbindungen aus Gesehenem und Imaginärem dar. Ein mythisch überformtes, ins Surreale, Symbolische und Unterbewusste ausgreifendes Ensemble legt die Künstlerin in verschiedenen Varianten als Fond ihrer Bilder an. So wirken die Bilder nicht nur atmosphärisch in den Ausstellungsraum hinein, sondern entwickeln auch einen Sog in eine eigene verschlungene und schillernde artifizielle Bildräumlichkeit.

Was wie monochrome oder wolkig abstrakte Malerei erscheint, ist Druckgrafik auf Leinwand, die zu einer Installation anwächst. In mehreren Druckstufen schichtet die Künstlerin ihre filigranen Figurenensembles und zeichenhafte Rapporte übereinander. Mit dem Pinsel bringt sie die Ölfarbe mittels Siebdrucktechnik auf den Bildträger. Das Druckverfahren übersetzt Körperlichkeit in stilisierte Lineaturen. Die figurativen Zeichnungen, die das künstlerische Schaffen Kerstin Vormoors von Beginn an bestimmen, bilden nicht nur buchstäblich die Ausgangslage, sondern verändern sich, entwickeln sich, mutieren zu immer neuen linearen Gebilden. Das Verfahren scheint die Entwicklung zum Zeichenhaften, die Ablösung der Komposition vom Gesehenen, das Filtern und Destillieren von Struktur und Wesenhaften aus der Figur mit abzubilden. Damit wird der Prozesscharakter, werden Entfaltung und Entwicklung sinnfällig, und der Faktor Zeit mischt sich zu Linie, Fläche und Raum.

„Malerei ohne Malerei“ hat jemand diese Kompositionen genannt. Malerisches auf technisch bedingtem Umweg, könnte man auch sagen. Vielleicht ist es auch ein Umkreisen der Malerei, in dem das Genre mit all seinen Kompositionsmustern und Wahrnehmungskonventionen befragt wird. Die Konturen der Zeichnung, die Grate und Riefen der Farbmaterie in ihrer reliefartigen Struktur treten vom Lichteinfall abhängig mehr oder weniger deutlich hervor. Die Bildzusammenhänge changieren, das Verhältnis von Figuration und Abstraktion bleibt im Fluss. Mal tritt ein Anschluss an die gegenständliche Welt und Wirklichkeit mehr in den Blick, mal steht ein eigener Kunstraum gegenüber, mal wirken die Bilder abgeschlossen von der Realität, mal als ein starker Echoraum, in der die Wirklichkeit umso klarer und eindringlicher nachklingt.

Es gehe ihr nicht um Malerei, es gehe ihr um das Verhältnis von Zeichnung und Raum, sagt Kerstin Vornmoor selbst. Damit weist sich die Künstlerin als eine Bildermacherin aus, die die problematischen Voraussetzungen des Bildermachens reflektiert und die Probleme und Hemmnisse der Wahrnehmung mit dazu. Indem sie Rollen aus Druckvorlagen wie Säulen in den Raum stellt, schafft sie eine skulpturale Korrespondenz zu den Bildtafeln und erzielt somit eine größere Raumwirkung. Die Säule lädt zum Umlaufen ein, sie besitzt eine große Präsenz und Behauptungsmacht. Sie begegnet dem Betrachter auf Augenhöhe, ruft eine andere Form der Wahrnehmung, eine größere Wahrnehmungsintensität hervor. Sie ermöglicht eine andere Wahrnehmung und Beachtung des Bildes.

In ihren jüngsten Arbeiten lässt Vornmoor ikonische Motive aus dem Christentum auf Figurationen und Muster, auf Arabesken aus dem islamischen Kulturkreis treffen. Erstaunt darüber, wie nah die islamische Formensprache einem christlich sozialisierten Menschen sein kann, will die Künstlerin dieses Thema weiter verfolgen. In ihren Kompositionen findet sich keine vordergründige interkulturelle Begegnung, sondern finden sich eher verborgene Parallelen, vielleicht verschüttete Dialoge, durchschimmernde Potenziale. Die spirituellen Inhalte erhalten ihre Entsprechung in der meditativen Formqualität, in den eher introvertiert anmutenden Farbwerten, in dem nach innen gerichteten kompositorischen Aufbau. Die spirituellen Inhalte mögen auch die sakrale Räumlichkeit befördern, die Kerstin Vornmoors Bilder hervorrufen. Auch der serielle Charakter der Bilder, die Variation und Aneinanderreihung der zeichnerischen Muster schaffen wie ein ornamentales Band, wie Brücken zwischen den einzelnen Bildern eine mächtige Raumbehauptung. Die Formen und die Wahrnehmung selbst bleiben in Bewegung. Eine bodennahe Archäologie des Zeichenhaften korrespondiert mit Reflexion und metaphysischen Ausgriffen. Zufällige Funde verbleiben im Status des nicht Entzifferbaren und Erklärbaren, Spuren von Gesehenem und Geschehen wachsen zu Organismen, Konstrukte und Artefakte, die gegenständliche Welt und ihre Kontrapunkte im Zeichenhaften begegnen sich.

Dr. Rainer Beßling, (Kunstkritiker)

(Einführungsrede zur Ausstellung "Maikäferflugbenzin" (mit Ilka Meyer) im Kunstverein Lohne)