Barbara Uppenkamp: "Lost Places: West-östliche Capricen"

Kerstin Vornmoors Kunst basiert auf Zeichnungen, die sie zum Teil bereits vor Jahren angefertigt hat. Immer wieder erscheinen  Gesichter,  Formen  und Ornamente in unterschiedlichen Zusammenhängen. Sie werden vervielfältigt und in immer neuen Kombinationen aneinandergefügt. 

Im Siebdruckverfahren bedruckte Stoffbahnen hängen locker von der Decke und ruhen mit dem unteren Ende auf dem Boden. So ergeben sich elegante Faltenwürfe, die an gotische Madonnenfiguren denken lassen. Ein zarter Lufthauch verwandelt die leichten Stoffbahnen in bewegliche Skulpturen. In den teils großformatigen Ölbildern lotet Kerstin Vornmoor die Grenzen zwischen Linie, Fläche und Raum neu aus, indem sie malerische und druckgraphische Techniken miteinander verbindet. Die übereinander gelagerten Formen der Zeichnungen, Ölbilder und Acrylmalereien mit ihren hellen, teils leuchtenden Farben ergeben reizvolle, räumlich  wirkende  Kon-traste. Dabei   verweisen   die aufgedruckten und  aufgemalten ornamentalen Formen auf Gemeinsamkeiten westlicher und orientalischer Kunst. Bei diesem druckgraphische Techniken einbeziehenden Malprozess liegt die Leinwand am Boden. Das Malen ist ein aufwendiger und anstrengender Akt, da in gebückter Haltung gearbeitet werden muss. Zwischendurch müssen die Leinwände immer wieder trocknen, ehe sich die nächste Malschicht aufbringen lässt.  

Oft verwendet Kerstin Vornmoor dieselbe Siebdruckschablone mehrmals, um ein Bild herzustellen oder ganze Werkgruppen entstehen zu lassen. Die aktuellen Arbeiten tragen so die Spuren von vorangegangenen, teilweise bereits vor Jahren entstandenen Werken in sich. Ursprünglich figurative Motive werden dabei zum Ornament und aus der ornamentalen Wiederholung, dem Rapport, ergeben sich neue Impulse. Ebenso können Details einer älteren Siebdruckarbeit isoliert und in frischer Farbigkeit eine neue Dynamik entfalten. So gehen die bunten Tupfen, Zahnrädchen und Rauten in Lost (Frank Ocean)  und Song aus dem Ornament aus Waschmaschine (Niels Frevert), People help the People (Birdy) und I started a joke (Bee Gees) von 2015 hervor. Bei der Zeichnung Tears Dry (Amy Winehouse) sind mit derselben Siebdruckschablone weiße, türkisfarbene und dunkelrote Formen übereinandergedruckt und gegeneinander verschoben. 

Die farbigen ornamentalen Gebilde heben sich vom silbrigen Papiergrund  ab und scheinen davor zu schweben. Ein verblüffender Eindruck von Räumlichkeit entsteht    durch die starken Kontraste der übereinander gelagerten Farben. Dieselbe Schablone findet auch in Couple Anwendung. Hier sind die Formen scheinbar gespiegelt und treten in Zweierbeziehungen zueinander.

Die schlichte Farbgebung der Paare in Schwarz und Weiß enthüllt die scheinbare Spiegelung als Umkehrung. Eines der Paare erscheint in der Mitte miteinander verbunden – zumindest gibt es eine Berührungsstelle, während  das  zweite Paar auseinanderzudriften scheint. Hier sind die Formen voneinander getrennt und halten sich nur noch in der Nähe ihres Partners auf. Das großformatige, hellfarbige Ölbild  Mitte des Lebens erstrahlt in den Farben Rosa, Gelb, Weiß, Rot und Grün. Auf einem Untergrund, der rosa bewölkt ist, scheinen zahnradartige Formen zu schweben. Die sich wiederholende ornamentale Form ist ein Kreis mit spitzzackigem Rand, der mehrere kreis- oder sternförmige Formen umschließt. Die mit einem Sieb aufgebrachten Ölfarbschichten sind reliefartig übereinandergelegt. 

So  ergibt sich  eine  Staffelung  von dunkleren Rottönen zu hellen Rosa- und Gelbtönen. Zugrundegelegt ist jedoch eine Schicht von grünlich grauen Formen, die nur hier und da durch die darüberliegende zartrosafarbene, verwischte und daher leicht wolkige Farbschicht hindurchschimmern. Diese Technik erinnert an die altmeisterliche Technik der Untermalung. So hat beispielsweise  Peter  Paul Rubens (1577−1640) dort, wo er Haut und Fleischpartien zu malen hatte, diese in zarten Rosatönen auf einer grünlich grauen Untermalung angebracht und ihnen dadurch vielfältige Schattierungen verliehen. Je nach Lichteinfall werden die tiefer liegenden Farbschichten besser sichtbar oder treten hinter  die  auf der Oberfläche liegenden weißen und roten Formen zurück. Deren ineinander verzahntes Gemenge mutet wie ein Blick durchs Mikroskop auf die dem nackten Auge unsichbare Welt der Kleinstlebewesen an. 

Das hochformatige Gemälde Ornamental Jeff Koons zeigt ein knolliges Gebilde aus angeschmutzt wirkenden grünen und rosafarbenen Ovalen und Ellipsen. Sie sind auf eine Leinwand aufgebracht, auf deren Rückseite sich bereits ein (verworfenes) Gemälde befindet. Farbspuren dieses Gemäldes dringen als Flecken auf die Vorderseite durch und tragen wesentlich zum Charakter des Bildes bei. Das abgenutzte, schäbige, stellenweise von undefinierbaren Substanzen befleckte Tuch wird zum interessanten Bildträger für die ebenfalls keineswegs makellos wirkenden Ellipsen. Ein direkter Bezug zu Jeff Koons lässt sich kaum ausmachen, eher erscheint das    Knollengebilde als ein ironischer Kommentar zu Koons’ auf Hochglanz polierten Edelstahlplastiken, die sich ebenfalls aus elliptischen oder ovalen Formen zusammensetzen.

Das Sounds of Silence (Simon & Garfunkel)betitelte Bild ist ein Gemälde, das auf dunklem Grund Wolken rautenförmiger Farbtupfer versammelt,  die in kräftigem Grün, Violett, Ocker und Weiß im Siebdruckverfahren aufgedruckt sind. Zum Teil sind die Farbaufträge wieder verwischt, sodass sich allein durch die unterschiedliche Behandlung der Farbmaterie so etwas wie ein Farbraumkörper im Sinne Gotthard Graubners (1930−2013) ergibt. 

Geradezu monumental erscheint daneben Lazarus (David Bowie). Es handelt sich um ein Diptychon, das aus zwei gleich großen, schwach weiß grundierten Leinwänden von hochrechteckigem Format besteht.  Die  beiden Leinwände wurden gleichzeitig bearbeitet. Tupfen, Zahnräder und Rauten in hell leuchtenden Farben sind in Siebdrucktechnik auf den Malgrund aufgebracht worden. Stellenweise hat Kerstin Vornmoor die noch feuchte Farbe verwischt und vermalt, sodass wolkige Stellen entstanden sind, von denen sich die scharf konturierten Farbtupfer abheben. Obwohl als Diptychon gedacht und in einem Arbeitsprozess entstanden, können die beiden Leinwände auch als Einzelbilder bestehen. Ihre Zusammengehörigkeit wird durch die aneinander anschließenden Farbfelder sowie durch die gesamte Verteilung der Farbflächen erkennbar, denen die Gemeinsamkeit der malerischen Geste und die durchgängige Bewegung der das Sieb führenden Hand anzusehen ist.  So erschließt sich die große Geste über die kleinen Farbtupfer, die ein wie zufällig erscheinendes Muster ergeben. 

Die bedruckte Stoffbahn Dream ist im Werkzusammenhang mit Lazarus (David  Bowie) zu sehen. Kerstin Vornmoor benutzte hier dieselben Siebe und dieselben hellen Farben. Im Unterschied zu den auf Keilrahmen  gespannten Gemälden ist der Stoff von Dream ein leichtes, ungrundiertes Leinengewebe.  Die Bahn hängt locker von der Decke und stößt mit dem unteren Ende auf den Boden auf. Der Stoff wirkt transparent, sodass  sich auf der Rückseite der Druck in zarter Schattierung spiegelbildlich wiederholt. Die leicht bewegliche Stoffbahn erinnert an die flatternden Rocksäume von Nymphen in der italienischen Malerei der Frührenaissance. Sie bringen einen weiblichen Impuls, frische Bewegung und Emotion in den Raum.

Light ist ebenfalls eine Arbeit mit bedruckten Stoffbahnen. Die in Siebdrucktechnik aufgebrachten Formen sind in kräftigen Farben versetzt übereinander gedruckt und ergeben einen räumlichen Effekt, indem sie sich vom Grund abzulösen und vor der Stoffbahn zu schweben scheinen. Die unterschiedlichen Textilqualitäten erzeugen dabei unterschiedliche Lichteffekte. Den aus älteren Zeichnungen entwickelten ornamentalen Formen liegen bereits bestehende Bilder zugrunde. Es handelt sich um Illustrationen aus einem Anatomiebuch und Vorbilder aus der Kunstgeschichte, unter anderem auch christliche Motive. Im Effekt wirken die ornamental gebannten Figurenmuster orientalisch. Dem bei der Arbeit Light vielfach wiederholten Motiv liegt mit Odradek (verkleidet) auch eine Zeichnung von Kerstin Vornmoor zugrunde Odradek „erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen”. Es ist lebendig, kann sprechen, antwortet aber nur sporadisch auf Fragen. Odradek hat zahlreiche Künstler der Moderne inspiriert. In Kerstin Vornmoors Zeichnung tritt Odradek verkleidet, also mehrfach rätselhaft auf. Es erscheint als ein vielgliedriges Gebilde in kräftigem Rosa auf weißem Grund, das auch von Ernst Haeckels (1834−1919) Kunstformen der Natur (1904) inspiriert sein könnte. Die Vielgliedrigkeit und der organische, an Seeanemonen gemahnende Aspekt lassen an die titelgebende Kurzgeschichte von Kafkas  Ein Landarzt denken, in der ein Patient eine tödliche Seitenwunde hat, in der sich Seeanemonen gleichende Maden winden.

Waschmaschine  (Niels Frevert)  , I started  a Joke   (Bee Gees) und People  help  the People (Birdy)   bilden  eine Werkgruppe, bei der dieselbe Siebdruckschablone zur Anwendung kam. Waschmaschine (Niels Frevert) ist auf silbernem Papier gedruckt, von dem sich die weiße Rosette kaum abhebt. Bei I started a Joke (Bee Gees) ist dieselbe Schablone mit Indischgelb auf weißes Papier gedruckt und mit der Form von Vulva kombiniert, die aus einer Illustration in einem Anatomiebuch entwickelt wurde. Organische und abstrakte geometrische Formen sind hier übereinandergelegt. People help the People (Birdy) zeigt die Rosette zweimal in Dunkelrot und Rosa gegeneinander versetzt gedruckt. Es sind zwei ähnliche Individuen, die miteinander verzahnt sind und im Kontakt zueinander stehen. Je t’aimais, je t’aime, je t’aimerai (Francis Cabrel) zeigt Anballungen von zart violetten, gelbgrünen, vor allem aber weißen und schwarzen Rauten und Tupfen, die sich aus einem wolkig blauen Grund herauslösen. Durch das Verwischen einzelner Partien entstandene ‚Unschärfen’  geben  dem  Gemälde  plastische  Tiefenwirkung. 

Auf ähnliche Weise sind auch Sweet Life (Frank Ocean)  und Wuthering Heights (Kate Bush)  entstanden.  Sie zeigen jedoch ein anderes Farbspektrum und eine andere Dichte und Verteilung der Rauten und Tupfen auf der Bildfläche. Unter ihnen ist Wuthering Heights (Kate Bush) das Dichteste. Es hat einen dunkelgrünen Grundton, auf den hellgrüne, an ihren Rändern verwischte und somit unscharf abgegrenzte Farbfelder gesetzt sind. Über die gesamte Bildfläche sind wiederum in kräftigem Rot, Violett, Hellrot, Türkis und Weiß Rauten und Tupfen gestreut.Die kleineren quadratischen Formate Summertime Sadness (Lana del Rey) und Message Personnel (Françoise Hardy) ähneln in der Farbgebung mit hellblauem Grund Je t’aimais, je t’aime, je t’aimerai (Francis Cabrel) und nehmen als auf eine Spitze gestellte Rauten die Dynamik der in den Raum sprühenden Farbtupfer und Rauten auf. Dieselben Siebdruckschablonen wurden auch für diese in hellbunten Acrylfarben auf Leinwand gemalten Werke verwendet. 

Aus den Titeln der Gemälde und Zeichnungen ergibt sich ein höchst eigenartiger, nicht hörbarer Soundtrack, der bei der Betrachtung der Bilder mitgedacht werden kann. Es sind die Titel von Songs, die Kerstin Vornmoor möglicherweise bei der Herstellung der Bilder gehört hat, die sie ihnen möglicherweise aber auch erst nach deren Fertigstellung angehängt hat, da sie für das jeweilige Werk passend erschienen. Die Titel verleihen den Werken eine weitere nicht sichtbare Dimension, die ihnen einen trotzigen, melancholischen, fröhlichen oder ironischen Unterton gibt, den man sich nur durch das Anhören dieser Songs erschließen kann.